Tanzcompagnie Rubato_Shanghai Report/Fremd-Körper/2011/3
Shanghai 24. Mai 2011
— “Es gibt keine Welt, in der wir je völlig zu Hause wären, und es gibt kein Subjekt, das je Herr im eigenen Hause wäre.” (Bernhard Waldenfels)—
Körpercodes – fremd im Eigenen – Showing Der Shanghai Sommer nimmt Anlauf mit 34 °C. Draußen beginnt es schwül und heiß zu werden. Die junge chinesische Frau trägt ein sehr kurzes Kleid. Der Stoff ist leicht, mehrlagig, gerüscht, fließend. Stoff und Schnitt erinnern an ein Négligeé. Sie zeigt ihre weißen Beinen und Arme und einen offenen Ausschnitt. Die junge chinesische Frau ist nicht alleine in ihrem sommerliche Outfit, welches Europäer als offensiv, den Körper zur Schau stellend, sexy, bezeichnen würden. Viele junge Frauen tragen jetzt diesen Sommerlook. Es ist das, was der Markt momentan massenhaft anbietet. In Europa würde man versteckte bis unverhohlene Reaktionen von Seiten der Männer erwarten, hier erlebt man keine offensichtlichen Reaktionen, Blicke, Intensitäten. Kleidung, Schminke, Körpercodes werden hier anders gelesen oder besser gesagt, nicht gelesen. Der chinesische Mann scheint sich (in der Öffentlichkeit) dadurch nicht angesprochen zu fühlen. Sachlicher, pragmatischer Umgang miteinander ist der Status Quo. Der Mann sitzt mit seinem wenigen, in zwei Plastiksäcken verpackte Hab und Gut auf einer Fußgängerbrücke, die über die sechsspurige Stadtautobahn führt. Er sieht aus wie einer der vielen Wanderarbeiter, braune Hautfarbe, dünn, drahtig, etwas ausgezehrt. Er ist mittleren Alters. Ein älterer, dicklicher Chinese mit Brille nähert sich ihm mit seinem kleinen herausgeputzten Pudel. Der Hund bleibt bei dem Mann stehen und beginnt diesen heftig anzubellen. Es gibt einen kurzen Wortwechsel zwischen den beiden Männern. Der Hundehalter ist im Begriff weiter zu gehen, da springt der drahtige Mann plötzlich auf und geht mit seinem, wie zu einer Waffe gestreckten rechten Arm und seinem bis zum äußersten gestreckten Zeigefinger auf den Hundehalter zu. Er berührt ihn nicht, aber sein gespitzter Zeigefinger befindet sich ca. 1 cm von seiner Nasenspitze entfernt. Der Wortwechsel wird heftiger. Beide Männer entfernen sich etwas voneinander. Der drahtige nimmt wieder Anlauf mit seinem gestreckten Arm zur Nasenspitze seines Kontrahenten. Heftige Worte werden ausgetauscht. Der Vorgang wiederholt sich einige Male, entfernen, Arm und Zeigefinger ausfahren, auf die Nasenspitze des Gegners zielen, Beschimpfung. Die Körper berühren sich nicht. Würde der dicke Mann den Zeigefinger vor seiner Nasenspitze wegschlagen, würde die Schlägerei beginnen. Soweit kommt es nicht. Irgendwann gehen die beiden einfach auseinander, schimpfen noch etwas, bis der Zorn verraucht ist. Diese Szene war typisch für eine direkte aggressive Auseinandersetzung zwischen zwei Chinesen im Alltag. Für kurze Zeit wird alles Indirekte aufgelöst der Zeigefinger wird unmittelbar auf die Person fixiert die man durchbohren und erledigen will, der Körper ist bis zum äußersten gespannt, mehr Direktheit geht nicht.Etwas abstrakter hat das auch mit einem anderen Thema zu tun welches uns beschäftigt hat: der Raum hinter uns. Er ist da, wir können ihn nicht sehen, er bleibt unzugänglich. Wir verlieren die Kontrolle wenn wir uns ihm überlassen. Unsere Bewegungen werden nicht über unser Gesichtsfeld gesteuert, wir reagieren aus unseren Reflexen heraus. Was sonst eher im Schatten liegt, tritt in den Vordergrund, übernimmt die Führung des Körpers. Setzt man sich diesem Zustand länger aus, wird das Nervensystem etwas umgepolt. Die Wahrnehmungskanäle verlagern sich in den Rücken, nehmen dort sozusagen „Fahrt auf“ und beginnen die sonst dominante Vorderseite zu neutralisieren. Eine ungewohnte Körperlichkeit, Bewegungsdynamik baut sich auf. Auf unpsychologische Weise entsteht ein „außer sich sein“.
In China wird eine einfache Methode des „Nerven neutralisieren“ schon lange gepflegt. Vor allem ältere Menschen gehen in Parks oft lange Zeit rückwärts.
Unser Prozess wird in Berlin fortgesetzt.
Herzliche Grüße aus Shanghai
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