Shanghai Report 3
Shanghai Report3
Shanghai 13. Mai. 2010 Liebe Freunde, Kollegen, Projektpartner, “wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen” (Albert Camus)….gestern ein weiteres Interview mit einem nong min gong (bäuerlicher Arbeiter = Wanderarbeiter) geführt. Ein älterer Man aus der Provinz Anhui, zieht seit 2005 hier in Shanghai von Baustelle zu Baustelle. Lebt mit seiner “workunit” inmitten von Baumaterial, Schutt, Staub, Farbdämpfen…Es ist ein ungeschriebenes Gesetz in den armen, bevölkerungsreichen Provinzen, dass, wer kann, in die reichen Städte geht um dort zu arbeiten und Geld nach Hause zu schicken.
Das Interview wurde von Chen Kai einem unserer chinesischen Tänzer/Choreografen geführt. Die Fragen hatten wir vorher abgesprochen, sodaß er während des Interviews nicht ständig vom Chinesischen ins Englische übersetzen musste und so ein besserer Gesprächsfluss zustande kam. Ich bediente die Videokamera und verstand während des aktuellen Gespräches nur wenig. Umso mehr fiel mir die unglaublich ruhige, gelassene, fast fröhliche Haltung dieses Mannes auf, seine freundlichen, lebendigen Augen. Sein Leben besteht aus arbeiten, essen und schlafen. Er ist ärmlich gekleidet und das was er sein eigen nennt, kann er in ein, zwei Tragetaschen von Baustelle zu Baustelle umziehen. Er klagt nicht, im Gegenteil, er ist zufrieden so wie er lebt, er ist nicht neidisch auf die Leute um ihn herum, die mehr haben, die teuere Autos fahren, schön gekleidet sind, er kennt kein anderes Leben. Er hat ganz klare Vorstellungen und Ziel: er hat Arbeit, das wird von ihm erwartet, er spart für seine Familie zuhause in Anhui, irgendwann will er ein altes Haus in Anhui modernisieren und darin zusammen mit seiner Familie leben.Er antwortete auf die Frage was der Körper für ihn bedeutet: UNKOSTEN.
Natürlich ist dieser Arbeiter nicht repräsentativ für die ca. 230 Millionen Wanderarbeiter die defakto mit ihrer billigen Arbeitskraft China aufbauen,
unter schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen, …ausgebeutet eben. Trotzdem hat mich diese Begegnung nachdenklich gemacht und mein
eher stereotypes Bild vom unglücklichen Wanderarbeiter ins Wanken gebracht. Auch unter dem Aspekt, dass ich die Verhältnisse hier eben doch nur durch meine deutsche/europäische “Brille” einschätzen und verstehen kann, d.h. ich kann nicht wirklich nachvollziehen das jemand der unter solchen Bedingungen lebt, so gelassen und zufrieden sein kann wie dieser Mann.
Städtische Kultur, jung bunt, selbstbewusst, ein spielerisches ausprobieren von Trends, Moden, Technologien. Unter den jungen (städtischen) Chinesen ist das Bedürfnis nach mehr individuellem Ausdruck sehr gewachsen. Am auffälligsten ist dies natürlich in der Art und Weise wie sich Frisuren und Kleidung in den letzten Jahren verändert haben, auch wenn es sich dabei oft um vom Markt gesteuerte Trends und Moden handeln mag. Trotzdem spürt man dahinter die Lust Identität, Körper, Lebensstil öffentlich sichtbar zu machen. Und, es gibt keine Einschränkung von “Oben”, sofern das Outfit im Rahmen der kodifizierten Schamgrenze bleibt.
Vier der sechs chinesischen Tänzer / Choreografen gehören dieser jungen Generation an, verkörpern dieses neue Selbstbewusstsein, gewachsen durch mehr Wohlstand und der Tatsache, dass sie viel mehr Möglichkeiten haben ihr Leben zu leben und zu gestalten als dies noch in der Generation ihre Eltern möglich war. Die unmittelbare Einflussnahme der Partei reicht nicht mehr flächendeckend bis in die Verästelungen des Privaten. Wer politisch nicht auffällt, wird privat in Ruhe gelassen.
Je länger wir an unserem neuen Stück arbeiten desto mehr erkennen wir, dass wir, beispielhaft, durch die jungen chinesischen Künstler mit diesem Teil chinesischer Realität umgehen, das dies im Stück sichtbar wird und das es sich auch im Titel niederschlagen muss. Wir einigen uns auf einen neuen Titel: look at me, I´m Chinese. Kan Wo, Wo Shi Zhong Guo Ren. Ling Xi meint, das es für ihre Eltern noch unmöglich gewesen wäre so etwas auszusprechen! Auch im Stück wird dieser Satz an verschiedenen Stellen Präsent sein: Just look at me, my body is here, you can see clearly that I am Chinese.
Unser erster Durchlauf; wir haben eine vorläufige Reihenfolge des divergierenden Materials gefunden. Das “erste Mal” ist auch im Entwicklungs-prozess eines Stückes ein besonderes Erlebnis. Es ist wie eine Reise durch chinesische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie ein Film, jeder/jede geht durch verschieden “Charaktere”. Vielschichtigkeit prägt das Gefüge, jede/r einzelne kann sich zeigen ist stark, gleichzeitig bilden sie aber auch eine Gruppe die es versteht zusammen zu agieren, zu atmen, zu singen, zu tanzen.
look at me, I´m Chinese: Konsum, Verausgabung, Funktionieren trifft auf spielerisch junge selbstbewusste Chinesen. Widersprüche, Kulturdifferenz, Globalisierung, der chinesische Weg? Just look at me, my body is here, you can see clearly that I am Chinese, and then you can think more about chinese culture.
Recent Comments